Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-J. Bontrup fordert die Gewerkschaften auf, sich verstärkt für eine Arbeitszeitverkürzung und eine Wirtschaftsdemokratie stark zu machen

Der Wahlkampf 2017 hat begonnen. Man merkt es auch daran, dass vermehrt Konferenzen mit dem Hauptthema Arbeit durchgeführt werden. Reiner Hoffmann der DGB-Vorsitzende bezeichnete auf einer solchen Konferenz die Arbeitszeitverkürzung als das Gewinnerthema für die Bundestagswahl. Er spricht aber lediglich von „Experimentierräumen“ für die Auflösung des 8-Stunden-Tages und er sieht die Arbeitszeitverkürzung als das ureigenste Feld für die Tarifvertragsparteien. Er meint wohl, andere sollten sich da eher heraushalten, also Arbeitszeitverkürzung sollte nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen werden.

Die organisierte Unternehmerschaft, hat sich da schon längst positioniert und fordert die Ausweitung des 8-Stunden-Tages und Verkürzungen der Ruhezeiten zwischen den Schichten als neue Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und meint, dass das Arbeitszeitgesetz doch schon genügend Flexibilität bietet, eben zur Ausweitung der Arbeitszeit.

Da wird in den nächsten Monaten kaum was gehen und zeigt, dass die derzeitige Gewerkschaftergeneration mit der Aufgabe der Arbeitszeitverkürzung maßlos überfordert scheint.

Es sei daran erinnert, was der kürzlich verstorbene Eckart Spoo mitten in der Krise 2009 unter der Überschrift „Gewerkschafter handelt!“ schrieb: „Gewerkschafter, wann besinnt ihr Euch auf das Notwendige? Die Autorität des Kapitals ist geschwächt, zumal es, außer noch brutalerer Ausbeutung, kein Konzept hat. Verschlaft die Situation nicht. Sonst wird sich Euer Mitgliederschwund fortsetzen. Und der Eures Durchsetzungsvermögens. Analysiert die Krise der 1920er, 1930er Jahre. Und handelt“.

In diesem Sinn ist der folgende Beitrag Heinz-J. Bontrup gedacht, der vor einigen Jahren gemeinsam mit Mohssen Massarrat das „Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit“ herausgegeben hat.

Die Gewerkschaften sind mehr denn je gefordert

Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-J. Bontrup fordert die Gewerkschaften auf, sich verstärkt für eine Arbeitszeitverkürzung und eine Wirtschaftsdemokratie stark zu machen:

Abhängig Beschäftigte und Gewerkschaften sind Gefangene der kapitalistisch widersprüchlichen Ordnung. Die Koalition der Beschäftigten ist gegründet worden, um die brutale Ausbeutung der Ware Arbeitskraft in den fortgeschrittenen Anfängen des kapitalistischen Systems zu lindern. Karl Marx bezeichnete 1867 die Gewerkschaften als „Organisationszentren der Arbeiterklasse“ und schrieb ihnen damit eine Schlüsselrolle bei der Konstituierung einer proletarischen Klassenbewegung im immerwährenden „Guerillakrieg zwischen Kapital und Arbeit“ zu. Er sah in den Gewerkschaften auch eine „organisierte Kraft zur Beseitigung des Systems der Lohnherrschaft und Kapitalherrschaft selbst.“ Ohne diese Beseitigung können sich die von den Gewerkschaften vertretenen abhängig Beschäftigten in der Tat nicht wirklich befreien. Das wusste selbst der intellektuelle Vater des kapitalistischen Systems, der schottische Nationalökonom Adam Smith, als er 1776 in seinem epochalem Werk „Der Wohlstand der Nationen“ schrieb: „Der bedauernswerte Arbeiter, der gewissermaßen das ganze Gebäude der menschlichen Gesellschaft auf seinen Schultern trägt, steht in der untersten Schicht dieser Gesellschaft. Er wird von ihrer ganzen Last erdrückt und versinkt gleichsam in den Boden, so daß man ihn auf der Oberfläche gar nicht wahrnimmt.“

Das zerstörerische Investitionsmonopol des Kapitals

Im Grundsatz gilt dies bis heute und wird auch so lange währen, wie die abhängig Beschäftigten nicht den vollen Wert ihrer Arbeit erhalten und es Menschen gibt, die auf Grund des Scheidungsprozesses von Eigentum und Arbeit andere Menschen für sich arbeiten lassen können. Die einen haben die hoch konzentrierten und ökonomisch entscheidenden Produktionsmittel und verfügen damit über das „Investitionsmonopol des Kapitals“ (Erich Preiser), und die anderen haben nichts anderes als ihre den Kapitaleignern zu verkaufende Arbeitskraft. Der Jesuitenpater, Ökonom und Berater von Konrad Adenauer, Oswald von Nell-Breuning, brachte die damit einhergehende Mehrwertproduktion in seinem 1960 erschienenen Buch „Kapitalismus und gerechter Lohn“ noch einmal kreislauftheoretisch auf den Punkt: „Für die Arbeitsleistung“, schrieb er, „zahlen die Unternehmer den Arbeitnehmern einen Arbeitslohn; dieser Arbeitslohn erscheint in der Erfolgsrechnung der Unternehmer als Kosten. Verwenden die Arbeitnehmer nun den ganzen Arbeitslohn zum Kauf der geschaffenen Konsumgüter, so heißt das: die Unternehmer erhalten die ganze von ihnen als Kosten aufgewendete Lohnsumme zurück und geben dafür nur die produzierten Konsumgüter ab; die neugeschaffenen Kapital- oder Investitionsgüter verbleiben ihnen sozusagen gratis und franko. Man könnte das auch so ausdrücken: die Arbeitnehmer schenken den Unternehmern die Kapital- oder Investitionsgüter und sind zufrieden, als Entgelt für ihre Leistung im Produktionsprozeß denjenigen Teil der produzierten Güter zu erhalten, der in Konsumgütern besteht. Auf diese Weise werden die Unternehmer reicher und reicher, und die Arbeitnehmer bleiben Habenichtse.“ Hier legt Nell-Breuning den Kern der widersprüchlichen kapitalistischen Ordnung blank. Marx fasste den Befund schon viel früher so zusammen: Die Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften sollten begreifen, „daß das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos: ‚Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!‘ sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: ‚Nieder mit dem Lohnsystem!‘.“

Mystifizierende Befriedung

Die Gewerkschaften haben sich aber, vor allen Dingen nach dem Zweiten Weltkrieg, auf die „Lohnfrage“ bzw. Tarifpolitik beschränken lassen und damit die zentral wichtige ökonomische Frage verschüttet, wem der volle Ertrag der Arbeit gehört? Während einer kurzen Vollbeschäftigungsphase kam es so zu einer mystifizierenden Befriedung zwischen Kapital und Arbeit. Die abhängig Beschäftigten wurden, zumindest in den entwickelten kapitalistischen Industrieländern, an der arbeitsteilig geschaffenen Produktivitätsentwicklung beteiligt. Ja, es kam in der alten Bundesrepublik sogar zu einer funktionalen Umverteilung von oben nach unten. Die gesamtwirtschaftliche Lohnquote stieg zu Lasten der Mehrwertquote und gleichzeitig wurde der Sozialstaat ausgebaut. Von Klassenkampf wollten in Folge selbst die Gewerkschaften nichts mehr wissen. Sogenannte „Kommunistische Tendenzen“ wurden von den Spitzenfunktionären in den Gewerkschaften vehement bekämpft.
Mit der mystifizierenden Befriedung war dann aber ab etwa Mitte der 1970er Jahre Schluss. Die Weltwirtschaftskrise von 1974/75 markiert hier den Wendepunkt. Die Gewerkschaften waren dem Kapital zu frech geworden. Der „Knüppel“ des Kapitals, dass Heer der Arbeitslosen, konnte endlich wieder zum Einsatz gebracht werden und wurde unter wirtschaftspolitisch neoliberalen Bedingungen, die von der herrschenden Politik geschaffen wurden, immer kräftiger geschwungen. Der zumindest wohlfahrtsstaatliche Keynesianismus war dann etwa ab Mitte der 1980 Jahren soweit diskreditiert, dass sich das neoliberale wirtschaftspolitische Paradigma immer mehr etablieren konnte und seitdem auf eine individuelle wettbewerblich vermittelte Autonomie der Menschen gesetzt wird, die konträr zur Intention einer kollektiven (gewerkschaftlichen) Solidarität steht. Mit der Diktion der Shareholder-Value-Maximierung wurde dann sogar das Arbeitsentgelt der abhängig Beschäftigten bei der Verteilung der vier Wertschöpfungsarten (Lohn, Zins, Grundrente und Profit) zur Restgröße erklärt, obwohl im immer währenden erweiterten Kapitalakkumulationsprozess das kapitalistische System diese Restgröße eigentlich dem Profit zuschreibt.

Als dann den Gewerkschaften auch noch der „natürliche Bündnispartner“, die neoliberal mutierte Sozialdemokratie, spätestens mit der Agenda-2010-Politik unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder, vollends abhandenkam, war der Dammbruch zur Niederhaltung der Gewerkschaften in einer aggressiv, marktradikalen, neoliberalen Umgebung endgültig eingeleitet. Hier ist es völlig unverständlich, wie bis heute die gewählten Gewerkschaftsspitzen noch zu einer SPD stehen können, die sich längst als „Arbeiterpartei“ verabschiedet hat und dem Neoliberalismus das Wort redet.

In einem solchen neoliberalen System, schreiben die Politologen Alex Demirovic, Martin Allespach und Lothar Wentzel, hält der Arbeitsmarkt „gleichsam Arbeitslosigkeit, Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigung bereit. Die Produktion wird teilweise retaylorisiert oder die vom Lohn Abhängigen als Arbeitskraftunternehmer dem Diktat marktgesteuerter Selbstausbeutung unterworfen; die tägliche, wöchentliche und Lebensarbeitszeit nimmt trotz höherer Produktivität tendenziell zu, durch Verdichtung des Arbeitsprozesses wird die Leistungsabgabe teilweise bis zur Erschöpfung verstärkt. An den Arbeitsplätzen nehmen die Unsicherheit und die Entsolidarisierung durch immer neue Managementstrategien, ständige betriebliche Reorganisationen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und kaum erfüllbare Gewinnerwartungen zu.“ Selbst eine verteilungsneutrale Lohnpartizipation an der gesamtwirtschaftlichen Produktivitäts- und Inflationsrate kann dann natürlich nicht mehr gelingen – geschweige denn die einmal von den Gewerkschaften geforderte und auch zur Zeit einer vollbeschäftigten Wirtschaft umgesetzte Umverteilungskomponente zur Steigerung der Lohnquote in den Tarifverhandlungen durchgesetzt werden.

Ohne Arbeitszeitverkürzung weiter Massenarbeitslosigkeit und gewerkschaftlicher Verfall

Dies ist lange her. Vierzig Jahre Massenarbeitslosigkeit in Deutschland, und keine Ende ist in Sicht, haben selbst einer Lohnpartizipation an der Produktivitäts- und Inflationsentwicklung ein Ende bereitet. Wollen die Gewerkschaftsspitzen mit Karl Marx nicht die kapitalistische Systemfrage stellen, dies haben sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem ersten DGB-Grundsatzprogramm noch getan, so sollten sie heute dann aber wenigstens neben der Lohnfrage in den Tarifverhandlungen mit aller Entschiedenheit und gleichberechtigt zumindest auch die Arbeitszeitfrage stellen. Aber nicht als ein Arbeitszeit-Flexibilisierungsmodell zur Befriedigung von individuellen Beschäftigteninteressen, die letztlich auf betriebswirtschaftlicher Ebene immer nur zum Profitvorteil der Unternehmer gereichen, sondern als ein kollektives Arbeitszeit-Verkürzungsmodell. Der amtierende Vorsitzende des DGB, Reiner Hoffmann, hat Recht, wenn er schreibt: „Fakt ist, dass die Flexibilisierung die Arbeitszeiten bislang verlängert hat. Im letzten Jahr wurden 1,8 Milliarden Überstunden geleistet, knapp eine Milliarde unbezahlt. Parallel erleben wir eine Zunahme atypischer Arbeitszeiten abends oder am Wochenende. Wer besonders lange oder zu unüblichen Zeiten arbeitet, hat tendenziell mehr Stress. Gleichzeitig nimmt die Arbeitsdichte, also mehr Arbeit in der gleichen Zeit, generell zu.“

Ohne Arbeitszeitverkürzung mit einer „Kurzen Vollzeit für Alle“ werden diese Probleme jedoch nicht gelöst und vor allen Dingen die entscheidende Krisenursache für den Lohnverfall, die Massenarbeitslosigkeit, nicht beseitigt. Im Gegenteil, sie wird noch, unter den auf uns zukommenden Digitalisierungsprozessen in der Wirtschaft („Fabrik 4.0“) und den Flüchtlingsintegrationen, weiter zunehmen. Wie dramatisch die Situation schon heute ist, zeigt bereits der Tatbestand, dass selbst eine 30-Stunde-Woche für Alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich nicht mehr ausreichen würde, um von einer Vollbeschäftigung sprechen zu können. Auf betriebswirtschaftlicher Ebene kann dabei dies gesamtwirtschaftliche Problem natürlich nicht gelöst werden, dagegen spricht bereits die einzelwirtschaftlich-kapitalistische Rationalitätsfalle. Aber auch auf tariflicher Ebene haben die Gewerkschaften unter den oben beschriebenen neoliberalen ökonomischen Veränderungsprozessen längst jegliche Durchsetzungsmacht für eine radikale notwendige Arbeitszeitverkürzung verloren. Ohne eine politische (staatliche) Intervention, wie beim gesetzlich eingeführten Mindestlohn, wird dies nicht mehr gelingen bzw. es nicht zu der dringend notwendigen kollektiven Arbeitszeitverkürzung kommen. Die Gewerkschaften können hier zurzeit im Deutschen Bundestag nur auf die Links-Partei und damit auf eine parlamentarische Unterstützung setzen.

Wirtschaftsdemokratie fordern

Neben der kollektiven Arbeitszeitverkürzung müssen die Gewerkschaften dringend eine zweite zentrale Aufgabe angehen. Die Aufhebung der widersprüchlichen Demokratiedichotomie zwischen staatlicher (politischer) Organisation und der Wirtschaft. Ohne eine umgesetzte Wirtschaftsdemokratie ist alles andere letztlich nicht zu haben. Heute gibt es dagegen eine gesellschaftlich über die Verfassung (Grundgesetz Art. 12 und 14) nicht akzeptable, aber einseitig geschützte Macht-Asymmetrie zu Gunsten des Kapitals. Hier wird dem Kapital in Verbindung von unternehmerischer Freiheit und dem Eigentum an Produktionsmitteln das in der Wirtschaft entscheidende und schon zitierte „Investitionsmonopol des Kapitals“ in den Unternehmen garantiert. Die abhängig Beschäftigten können sich aber ohne Produktionsmittel und Investitionen mit ihrer Arbeitskraft nicht verwerten. Sie sind auf das Kapital angewiesen. Werden sie von einem Unternehmer an den Arbeitsmärkten nicht nachgefragt und sie sind arbeitslos, so ist ihre Arbeitskraft ökonomisch ohne jeden Wert. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat jedoch 1995 in einem Rechtsgutachten die Kapitaleigner darauf hingewiesen, dass die Sicherung unbegrenzter Eigentumsakkumulation nicht Inhalt der Eigentumsgarantie sei. Ökonomisch gibt es aber realiter einen anderen Befund, wenn allein 2016 die 30 größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland knapp 31 Milliarden Euro Dividenden an die Kapitaleigner ausschütten. Fast 6 Prozent mehr als im Vorjahr. Wer dagegen 45 Jahre lang in Vollzeit für 11,60 Euro in der Stunde im Niedriglohnsektor gearbeitet hat, erwirbt zukünftige Rentenansprüche, die nicht einmal mehr das Niveau der Grundsicherung erreichen werden.   Die aus dem „Investitionsmonopol“ resultierende Entscheidungsmacht in den Unternehmen ist in diesem ganzen Kontext mit nichts ökonomisch begründbar, da für jede Produktionsfunktion gilt, dass nur mit dem Einsatzfaktor Kapital und Naturgebrauch, also ohne Beschäftigte, ein Produktionsoutput nicht möglich ist – dass ein Unternehmen ohne Menschen kein Unternehmen ist und keine Werte geschaffen werden. Warum, ist dann aber zu fragen, haben final nur die Unternehmer bzw. Kapitaleigner in den Unternehmen das Sagen? Diese Frage müssen die Gewerkschaften der herrschenden Politik, vor allen der SPD, stellen und mit Nachdruck um eine intelligente ökonomische Antwort bitten. Die vom DGB jüngst geforderte Ausweitung der Mitbestimmung, selbst wenn es hier zur Umsetzung der berechtigten Forderungen käme, würde dabei jedoch als Antwort nicht ausreichend sein.

 

Quelle: DGB-Debattenportal GEGENBLENDE, Ossietzky

Bild: ver.di Jugend


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